1. Bezirk, Stephansplatz
Wenige Meter unter den uralten Bodenplatten des Stephansdomes liegt ein weitläufiges, dunkles Totenreich, das ab ca. 1486 über Jahrhunderte hinweg angelegt worden ist. Im linken Seitenschiff des Doms führt eine Treppe hinab in eine Unterkirche und von dort in die faszinierende, einzigartige Nekropole. Zunächst gelangt man in den alten Teil der Katakomben, der sich jedoch eher modern präsentiert: Weisser Putz und ein neuzeitlicher Plattenboden täuschen über das Alter der Räume hinweg. Hinter der Krypta folgt eine Gruft, in der hermetisch verschlossene Kupfersärge und Kupfergefässe stehen. In den Särgen sind Bischöfe bestattet.
Die Metallgefässe – teils reich verziert mit Kreuzen, Totenschädeln und Inschriften, teils schlicht und ungeschmückt – enthalten die Eingeweide der Habsburger. Es war in Wien über einen längeren Zeitraum Brauch, die Körper der Verstorbenen Hochadligen auszuweiden und die Innereien separat zu bestatten in einem Gefäss mit konservierender Alkohollösung. Die leeren Körper wurden in der Kaisergruft unter der Kapuzinerkirche beigesetzt, die Herzen in der Herzgruft in der Augustinerkirche. Die im Stephansdom aufgestellten Eingeweide-Urnen haben unterschiedliche Grössen. Da einige von ihnen im Laufe der Zeit undicht geworden waren, hat man – um den austretenden Verwesungsgeruch zu unterbinden – die betroffene Urne einfach in ein grösseres Kupfergefäss gestellt und dieses erneut luftdicht verschlossen.
Als nächstes folgt die Gruft der Domherren und Bischöfe, ihre Särge stehen in Nischen hinter roten Marmorplatten. Eine ganz andere Atmosphäre herrscht im später angelegten Teil der Katakomben. Dunkle Gänge, erfüllt von modriger Luft, führen weiter in die Tiefe. Man betritt einen Raum mit vergittertem Fenster. Der Blick fällt in einen weiteren Raum, der mit menschlichen Gebeinen angefüllt ist. Auf den Knochenhaufen liegen einige zerfallene Särge mit mehr oder weniger intakten Skeletten, die zumindest als solche noch erkennbar sind. Alle heute zugänglichen Räume der katakomben waren einst bis unter die Decke angefüllt mit Leichen. War ein Raum besetzt, wurde er zugemauert, und man nutzte den nächsten Raum.
Als der Stephansfriedhof um den Dom im Jahre 1732 aufgelassen wurde, verlegte man die Leichen aus den Gräbern ebenfalls in die Katakomben. Bei einer sogenannten „Pestgrube“ – ob in ihr wirklich Pestleichen bestattet wurden, ist nicht belegt – handelt es sich um eine kleine runde Öffnung, durch die gerade ein menschlicher Körper hindurchpasst. Der Hohlraum darunter ist bis obenhin voll mit Knochen. Es gab Zeiten, in denen der Stephansdom angeblich geschlossen werden musste, weil der ins Kircheninnere dringende Verwesungsgestank aus den Katakomben so unerträglich war. Auch die Katakomben selbst wurden verriegelt.
Anfang des 19. Jahrhundert schickte man Mönche und Sträflinge in die Katakomben. Sie sollten in den dunklen Räumen Ordnung schaffen. In den Gruften herrschte ein heilloses Durcheinander von menschlichen Überresten, halb oder ganz verweste Leichen bis unter die Decke übereinander liegend.
Man schickte sich an, die Toten zu stapeln und lose Gebeine aufzuschichten. Bald herrschte unter dem Stephansom wieder sowas wie Ordnung, und die „Kirchen Krufften“ wurden erneut geöffnet – auch für touristische Zwecke. Die damals prominente englische Reiseschriftstellerin Frances Trollope (1779-1863) unternahm während ihres Besuches in Wien eine solche Katakombentour. Ihre zuweilen erschütternden Eindrücke hat sie in einem ausführlichen Bericht festgehalten (s. weiter unten). Dieser gelangte an die Öffentlichkeit und löste bei der Bevölkerung Entsetzen sowie Unverständnis aus, denn man wusste nichts vom pietätlosen und nekrophilen Treiben in den Katakomben, dessen die entsetzte Schritftstellerin während ihrer Exkursion gewahr geworden war.
Die Katakomben wecken touristisches Interesse
Selbst die Wiener Prominenz interessierte sich jetzt für die düstere Welt unter dem Dom. Der Schriftsteller Adalbert Stifter unternahm mit Freunden im November 1841 unter der Leitung eines Ortskundigen eine Exkursion in die Gruften von St. Stephan. Beim Anblick einer mumifizierten Frauenleiche hielt er folgendes fest:
„Mit welchem Pompe mag sie einst begraben worden sein! Und in welchem Zustande liegt sie jetzt da! Blossgegeben dem Blicke jedes Beschauers, schnöde auf die Erde niedergestellt, und unverwahrt vor rohen Händen; das Antlitz und der Körper ist wunderbar erhalten, die Züge des Gesichts sind erkennbar, die Glieder des Körpers sind da, aber die züchtige Hülle desselben ist verstaubt und zerrissen, nur einige schmutzig-schwarze Lappen liegen um die Glieder und verhüllen sie dürftig, auf einem Fusse schlottert ein schwarzer Strumpf, der andere ist nackt, die Haare liegen wirr und staubig, und die Fetzen eines schwarzen Schleiers ziehen sich seitwärts und kleben aneinander wie ein gedrehter Strick – diese Zerfetzung des Anzuges und die Unordnung, gleichsam wie eine Art Liederlichkeit, zeigte mir ins Herz schneidend die rührende Hilflosigkeit eines Toten und widersprach fürchterlich der Heiligkeit einer Leiche.“
Auch der an Tod und Schattenwelt interessierte Eduard Strauss schildert in seinen Memoiren, was er gesehen hatte, als er mit seinem Bruder Josef in die Katakomben hinabgesteigen war:
„In der Mitte der Sechzigerjahre wurden die Katakomben der St. Stephanskirche blossgelegt. Als ich hievon erfuhr, bewarb ich mich für mich und Josef, von dem ich wusste, dass ihn solche Dinge interessieren, um Einlasskarten, welche ich auch erhielt. Drei Diener mit Fackeln leuchteten dem kleinen nur aus sechs Herren bestehenden Zuge. Gleich in der ersten Galerie stiessen wir mit den Füssen auf umherliegende Schädel und Brustskelette, aus welchem sich durch den Anprall Zähne und Rippen lösten. In der zweiten Galerie, etwa zwanzig Stufen tiefer, sahen wir hölzerne Särge an den Wänden aufgeschichtet oder in die Erde gebettet. Einer der Arbeiter ersuchte mich, beiseite zu treten, da ich auf einem solchen Sarge stand.
Er hob nun den Deckel desselben, der sich von der Erde noch unterschied, ab, und vor uns im Fackelschein lag ein Kapuziner, angetan mit seiner Kutte, den Rosenkranz um die Finger gewickelt. Hände und Finger waren zwar dürr, aber mit Haut bekleidet, die Nägel blau, aber unversehrt. Auch waren die Kopfhaare ganz deutlich, von den Augenbrauen hingegen jedoch nur noch Spuren wahrzunehmen. Trotz des eigentümlichen Eindruckes, den diese wohlconservierte Mumie auf ihre Besucher machte, wurde noch ein Sargdeckel geöffnet. Er hatte bis nun eine mit einem verschnürten Dolman gezierte Frauenleiche, wohl die einer ungarischen Dame. Waren wir durch den Anblick dieser Mumien schon aufs höchste erstaunt, so sollte uns noch eine grössere Überraschung zuteil werden, als wir etwa zehn Stufen tiefer die zirka 2 1/2 Stockwerke unter der Erde sich befindliche dritte Galerie betraten. Sie erwies sich als ein grosser, viereckiger Raum und barg 42 entblösste Leichen, deren wir bei dem Scheine der Fackeln ansichtig wurden…“
Der Katakombentourismus florierte, immer mehr Abenteuerlustige suchten die Schattenwelt unter dem Dom auf. Den Höhepunkt erreichte dieses Geschäft im Jahre 1873, als Wien Austragungsort der Weltausstellung war. Die Wende kam jedoch noch im selben Jahr: Die Wiener Hausbrunnen wurden nach Inbetriebnahme der ersten Wasserleitung nicht mehr ausgeschöpft, wodurch der Grundwasserspiegel stark anstieg. Das führte zu einem höheren Feuchtigkeitsgrad in den Katakomben, worauf man einen grossen Teil der menschlichen Überreste wegschaffen oder in tiefe Gruben verlegen musste.
Für die Öffentlichkeit ist heute nur ein Bruchteil des ganzen Katakombensystems zugänglich. Die Führungen sind bei Touristen sehr beliebt und finden mehrmals täglich statt. Sammelpunkt ist der Treppenabgang im linken Seitenschiff des Doms. Ein Zifferblatt zeigt jeweils die nächste Führung an.
Tagebucheintrag von Frances Trollope zu ihrem Besuch in den Katakomben:
1. Dezember 1836
„Als Eingang zu diesen Grüften dient ein unscheinbares Tor zwischen Häusern hinter der Kathedrale, welches in eine kleine und schmutzige Kammer führt, in der ein paar Weiber beim Waschen waren. Durch diese Kammer kamen wir in einen gepflasterten Hof, oder vielmehr in einen Gang, der ebenfalls schmutzig war und sich in gleichem Zustande häuslicher Benutzung befand. Am anderen Ende desselben war wieder eine Türe, von der die Stufen in die Katakomben führten. Die Verborgenheit dieses Zuganges bewies, dass wir im Begriffe waren, etwas zu sehen, dessen Anblick nicht oft gesucht wurde. Und hätten wir daraus den vernünftigen Schluss gezogen und gefolgert, allenfalls nichts Sehenswertes zu versäumen, so wären wir der schrecklichsten Szene, die sich je den Blicken von Sterblichen darbot, entgangen.
Statt umzukehren, wie wir es meiner Meinung nach hätten tun sollen, trieb uns der Dämon der Neugierde vorwärts. Wir stiegen die Stufen hinab, bekamen jeder ein Wachslicht in die Hand und begannen dann unsere entsetzliche Exkursion. Zwei Männer begleiteten uns, einer ging voran, der andere folgte. Beide zählten die Personen und schärften uns ernsthaft ein, beisammen zu bleiben. Unser Zug passte einigermassen zu dem Schauspiele, denn die Wachskerzen, die wir trugen, glichen jenen, die man bei feierlichen Leichenbegängnissen trägt, und waren zweifellos auch schon dazu verwendet worden, denn sie alle waren schon teilweise abgebrannt.
Nachdem wir ein Stück in dem engen Gange weiterkamen, kehrten wir um eine Ecke und befanden uns am Anfang einer anderen, weit schöneren Flucht von Stufen. Diese Treppe war aus Stein und aus demselben Material überwölbt. Die vorhergehende war, wie ich glaube, aus Holz und konnte kein Teil der ursprünglichen Anlage gewesen sein. Wo der frühere Eingang war, weiss ich nicht; wahrscheinlich ist er zugemauert, und jener, durch den wir hindurchkamen, war nur für die Bequemlichkeit derjenigen, deren grässlicher Beruf sie zuweilen in diese alten Gräber führt.
Als wir durch den Gang schritten, der von dieser zweiten Treppe weiterführte, gewahrte ich hoch über unseren Häuptern einen schwachen Schimmer des Tageslichtes! Ich erkundigte mich, woher die käme, und erfuhr, dass das Licht von einem Gitter im Dome herrühre, von wo die Leichen einst in die Grüfte hinabgelassen wurden. Wir setzten unseren Weg fort, ohne auf etwas Schrecklicheres zu stossen, als man natürlicherweise in Grüften, die zur Aufbewahrung menschlicher Überreste bestimmt waren, erwarten musste; das heisst, wir sahen zuerst auf der einen Seite Wände, die aus menschlichen Gebeinen bestanden, zwar von keiner grossen Ausdehnung, aber genauso angeordnet, wie es die Abbildungen der Pariser Katakomben zeigen. Und hier hätte die Führung enden müssen. Sie hätte zweifellos auch hier geendet, wenn bloss je eine Besichtigung beabsichtigt war.
Aber der Mann, der voranging, schritt immer weiter, und wir alle folgten ihm. Plötzlich änderte sich der Schauplatz, jede Beziehung zu Ordnung und Ehrfurcht von den hier aufgeschichteten menschlichen Überresten schwand. Es bot sich uns ein solches Bild, wie es mich sicher das ganze Leben hindurch in meinen Träumen verfolgen wird. Wir erreichten eine grosse, viereckige Gruft, in der unser Führer hielt, und indem er das Licht, das er trug, senkte, zeigte er uns auf dem Boden, der von ungeheuren Massen widerlichen Moders bedeckt war, einen Haufen ganzer, nackter, unbestatteter Leichen in den verschiedensten Lagen, wie sie nur der Zufall bewirken kann. Durch eine besondere Beschaffenheit der Luft, wahrscheinlich wegen des auffallenden Mangels an Feuchtigkeit, findet die Zersetzung, welche gewöhnlich dem Tode folgt, hier nicht statt.
Die Haut ist statt dessen zu dickem Leder eingetrocknet, während die Form der Körper und in vielen Fällen sogar die Gesichtszüge so unverändert blieben, dass ihre grinsende Ähnlichkeit sie uns so ergreifend und entsetzlich wie möglich macht. Die verschiedenen Stellungen und der vielfältige Ausdruck jedes gespenstischen Hauptes schien dem Tode Leben zu geben, und ich zitterte, als ich diese Dinge des Schreckens betrachtete, dass ich wahnsinnig würde.
Solch ein Schauspiel und die nachlässige Unordnung, in welcher die schauderhaften Gerippe zerstreut lagen, waren in der Tat genug, um die Schritte eines Weibes wankend zu machen und ihre Sinne zu verwirren, dennoch war dies erst der Anfang der Schrecken. Nachdem unser Führer uns Zeit gelassen hatte, uns umzusehen und die ganze eklige Szene zu überblicken, fasst er eines dieser kläglichen Überreste menschlichen Seins an der Kehle, hob die Leiche vor unseren Augen hoch, liess sie vor uns aufrecht stehen und schwenkte dabei seine Fackel so, dass wir sie in ihrer ganzen Hässlichkeit sehen konnten. Dann verbreitete er sich dabei über ihre Grösse und ihre guten Proportionen, liess plötzlich die rasselnde Leiche vor unseren Füssen fallen, hob eine andere auf, sagte, dass es ein Frauenzimmer wäre, erhob eine dritte, lehnte sie mit der Hand, in der er das Licht hielt, gegen seinen Körper und riss mit der anderen lange Streifen der vertrockneten Haut ab, um uns zu zeigen wie zähe sie sei.
Hätte ich klar überlegen können, so würde ich mit Macht darauf bestanden haben, wieder zurückzukehren, um mit allen noch verbliebenen Kräften den gesegneten Anblick des Lichtes und des menschlichen Lebens wiederzuerlangen; aber ich war benommen, von Schauder ergriffen und gänzlich verwirrt, und so folgte ich der Gesellschaft, ohne ein Wort zu sprechen…
Ich kann nicht sagen, durch wie viele solche schreckliche Höhlen wir kamen: das eine weiss ich aber, dass Fledermäuse an den Wänden hängen und unzählige Menschenleichen mich mit geöffnetem Mund angrinsten, als ich vorüberging…“