„Operetten gelten als muffig und spiessig – ein Irrtum, denn diese unerhörte musikdramatische Kunst birgt bei aller Ironie ein utopisches Potential, das spielerisch die Welt aus den Angeln heben möchte.“
Dieses Zitat von Volker Klotz, Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Stuttgart, versucht, das scheinbar vergessene Genre der klassischen Operette vor dem endgültigen Verschwinden aus dem Kunstsinn der heutigen Gesellschaft zu bewahren. Aber ist denn die Operette wirklich dazu verurteilt, in die ewigen Jagdgründe der Kunstformen geschickt zu werden?
Als in den 1970er- und 1980er-Jahren allmählich Musicals die Bühnen der Welt eroberten, zog sich die Operette in der Tat aus dem kulturellen Geschehen zurück und verstaubte zunehmend in den Regalen der Musikarchive. Die Operette traf den Nerv der Zeit nicht mehr. Hatte die Gesellschaft genug von der Beschwingtheit, der zugegebenermassen manchmal kitschigen Romantik und der Walzerseligkeit? Für den Moment vielleicht ja, aber ein harter Kern von Operettenanhängern hat sich stets tapfer gehalten. Wirklich verschwunden ist das Genre nie. Traditionsreiche Aufführungsstätten, die sich seit jeher der Operette verschrieben haben, bewahrten sie vor dem Aussterben.
Allerdings wurde nur ein kleiner Teil des immensen Repertoires an Operetten aufgeführt, in anderen Worten: Bloss ein paar der bekanntesten Werke wurden immer wieder inszeniert. „Die Fledermaus„, „Der Zigeunerbaron„, „Eine Nacht in Venedig„, „Der Bettelstudent„, „Der Vogelhändler„, „Die lustige Witwe„, „Die Czardasfürstin“ oder „Im Weissen Rössl“ waren in etwa diejenigen Kassenschlager, welche sich in den Köpfen der Gesellschaft festgesetzt hatten. Die Intendanten der Theater haben nur Werke ins Programm aufgenommen, von denen sie sicher waren, dass sie das Haus zu füllen vermögen. Offenbar haben sie sich gescheut, weniger bekannte Werke wieder zu beleben und einem bestimmt interessierten Publikum neu bekannt zu machen.
Die Operettenbühnen sichern das Überleben des Genres
Beispiel Schweiz: In der Alpenrepublik existieren mehrere Spielstätten, die sich auf die Operette spezialisiert und sich landesweit einen Namen gemacht haben. Zu nennen sind hier allen voran die Bühnen in Möriken-Wildegg, Sirnach, Hombrechtikon, Arth-Goldau, Beinwil oder Sursee. Hier werden regelmässig, mitunter jedes Jahr, mit beachtlichem Aufwand Operetten inszeniert. Gelegentlich greift man sogar in die Überraschungskiste und versucht, das Publikum mit einer alten „Neuheit“ zu überraschen. So wie das Stadttheater Sursee es beispielsweise getan hat in der Saison 2005. Damals wurde dort mit viel Liebe zum Detail Edmund Eyslers „Die goldene Meisterin“ aufgeführt. Mit grossem Erfolg – sämtliche Aufführungen waren ausverkauft. Das Publikum hat schnell festgestellt, dass Eyslers Meisterwerk weder inhaltlich noch musikalisch anderen bekannten Operetten hinterher hinkt. Im Gegenteil.
Dies zeigt, dass sich ein Griff in die „Mottenkiste“ der heute weniger bekannten und vergessenen Operetten durchaus auszahlen kann. Es braucht lediglich einen innovativen Intendanten und ein überlegtes Marketing. So wie es Fritz Kreisler im Falle von Antonio Vivaldi gemacht hat. Der italienische Barockkomponist war so gut wie aus dem allgemeinen Gedächtnis getilgt gewesen. Fritz Kreisler hat sich die Mühe gemacht, sein Werk zu sammeln und zu intonieren. Heute ist Vivaldi wieder einer der populärsten Vertreter des Barock. Ähnliches Potential schlummert in gar mancher Operettenpartituren, die in den Archiven der Wiener Nationalbibliothek, der Zürcher Zentralbibliothek oder anderen unter einer dicken Staubschicht auf ihre Wiederentdeckung warten.
In den vergangenen Jahren haben sich einige Operettenspielstätten behaupten können und erfreuen sich mittlerweile grosser Popularität. Allen voran sind die Seefestspiele im burgenländischen Mörbisch zu nennen. Ähnlich wie in Bregenz wird hier seit 1957 jeweils eine grosse Bühne in den Neusiedlersee gebaut, auf der jährlich mit grossem Aufwand ein Bühnenwerk – meist Operetten – inszeniert wird. Zählte man zu Beginn der Festspiele vor 70 Jahren durchschnittlich 20’000 Zuschauer pro Saison, ist es heute ein Vielfaches. Von einem Aussterben der Operette kann somit nicht wirklich die Rede sein. Zwar bedient man sich in Mörbisch auch vornehmlich bekannter „Standardwerke“, doch alle paar Jahre kommt ein rares Juwel am Rande der Ungarischen Tiefebene zur Aufführung. 2003 war es „Giuditta“ von Franz Lehár, 1997 „Pariser Leben“ von Jacques Offenbach, 1978 „Die Zirkusprinzessin“ von Emmerich Kálmán, im Jahr zuvor „Maske in Blau“ von Fred Raymond, 1970 „Die ungarische Hochzeit“ von Nico Dostal, 1967 „Venus in Seide“ von Robert Stolz oder 1963 „Gasparone“ von Carl Millöcker.
Es ist naheliegend, dass besonders in Österreich – dem Ursprungsland der klassischen Operette, wie man sie heute kennt – dieses Genre lebendig gehalten, respektive gefördert wird. Denn unweit von Mörbisch entfernt, in Baden bei Wien, zelebriert man am dortigen Stadttheater die Operette ebenfalls mehr als andernorts. Mit ähnlichem Erfolg, versteht sich. 2007 wurde dort Fritz Kreislers „Sissy“ inszeniert, ein weitgehend unbekanntes Werk. Zwar nicht so reich an Musik, verfügt es aber dennoch über alle Eigenschaften, die eine Operette ausmachen. Es spricht für sich, dass das Stadttheater Baden ausgebucht war. Eine Vorreiterrolle spielt auch die Volksoper in Wien. Auf ihrem Spielplan stehen meist Operetten. Zwar kommen hier hauptsächlich ebenfalls bekannte Werke zur Aufführung, aber auch daran lässt sich erkennen, dass das Genre der Operette allmählich eine Renaissance erfährt.
Gründe für die mögliche Wiederentdeckung
Was ist es denn nun, das die Operette langsam wieder ins Bewusstsein der Kulturinteressierten zurück ruft? Warum wird diese Bühnengattung wieder mehr geschätzt? Operetten bringen vergangene Zeiten in die Gegenwart, die irgendwie doch noch nicht soweit zurückliegen und heute immer noch greifbar sind. Allein die Kaiserzeit im 19. Jahrhundert – die Blütezeit der goldenen Operette – ist heutzutage präsent wie nie seit dem Untergang der Monarchie im Ersten Weltkrieg. Die Operette lässt die Zeit Franz Josephs und Elisabeths lebendig werden.
Ein anderer Punkt ist derjenige, dass es die Operetten erlauben, modern inszeniert zu werden. Was für manchen Nostalgiker ein Albtraum ist, animiert manchen Intendanten und Bühnenbildner zu regelrechten Wagnissen. Nicht nur Opern fallen der Modernisierung auf der Bühne „zum Opfer“, sondern immer mehr auch Operetten. Vor allem im traditionsbewussten Wien kommt es somit häufig vor, dass ein entrüsteter Zuschauer den Saal schimpfend verlässt. Geschmacksache einerseits, eine weitere Motivation andererseits, die Operette wieder zu beleben, wenn auch auf moderne und spielerische Art.
Auch wird man endlich erkannt haben, dass die Operetten nicht einfach nur amüsante, leichte Kost sind. Im Gegenteil: Manche Operettenarie ist musikalisch so anspruchsvoll wie die bekannten Arien aus dem Belcanto oder der klassischen Oper. Wer sich ein gut interpretiertes „Dein ist mein ganzes Herz“ von Franz Lehár oder den „Czardas der Rosalinde“ von Johann Strauss aufmerksam anhört, der merkt, was die Gesangskünstler auf der Bühne wirklich vollbringen.
Ziehrer – ein verglimmter Stern am Operettenhimmel
Zu den produktivsten, wienerischsten, melodienreichsten und – vor allem – am meisten verkannten Operettenkomponisten überhaupt gehört Carl Michael Ziehrer. Aus seiner Feder sind rund 600 Walzer, Polkas und Märsche entstanden – und ganze 23 Operetten. Zwar ist ein Teil davon beim Brand im Wiener Ringtheater von 1881 unwiderbringlich verloren gegangen. Trotzdem verstaubt ein Grossteil seines Schaffens in irgendwelchen Archiven und wartet darauf, neu entdeckt zu werden. Einzig „Die Landstreicher“ oder „Der Fremdenführer“ sind unter Musikexperten heutzutage noch Begriffe, die in deren Köpfen ein „irgendwo schon mal gehört“ hervorrufen. Aufgeführt werden diese Meisterwerke jedoch nirgends. Ganz zu schweigen also von ebenbürtigen Ziehrer-Operetten wie „Das dumme Herz“, „Die drei Wünsche“ oder „Der Schätzmeister“. Wenn die Welt wüsste, was für ein ungeheurer und unschätzbarer Musikreichtum ihr dadurch verschlossen bleibt. Melodien mit Evergreenpotential, ja wahre Juwelen musikalischer Höchstleistung und Kongenialität gebündelt mit witz- und geistreichen Abhandlungen. Ähnliches gilt auch für andere Komponisten wie Franz von Suppè, Carl Zeller oder Richard Genée und weitere.
Bleibt als Fazit festzuhalten, dass sich in der heutigen Musikwelt etwas zu tun scheint, eine Tendenz zur Renaissance der Operette ist durchaus erkennbar. Und es besteht die berechtigte Hoffnung, dass mit dem Willen und der Unterstützung von mutigen Intendanten nach und nach vergessene Bühnenwerke den Weg zurück auf die Bretter, die die Welt bedeuten, finden.