11. Bezirk, Simmeringer Hauptstrasse 234

Wo viele Menschen leben, sterben auch viele. Im 19. Jahrhundert wuchs die Einwohnerzahl von Wien drastisch, und auf den städtischen Friedhöfen war kein Platz mehr für die vielen Toten. Dies war der Anlass zu Errichtung des rund 2.5 Quadratkilometer grossen Zentralfriedhofes, welcher im Jahre 1874 eröffnet wurde. Er liegt südöstlich ausserhalb der Stadt in Simmering. Wie bei zahlreichen anderen Projekten Wiens wurde auch für die Planung des Zentralfriedhofes ein Wettbewerb ausgeschrieben, welcher von dem Frankfurter Architektenteam Karl Mylius und Alfred Bluntschli gewonnen wurde. Unmut machte sich anfangs breit, da der Zentralfriedhof ein konfessionsloser Friedhof sein sollte.

Man zweifelte daran, dass eine klare Abgrenzung zwischen den unterschiedlichen Konfessionen und eine Einweihung möglich sei. Man fand einen Kompromiss, aber dennoch blieb der Friedhof vorerst ein Gesprächsthema. Die Errichtung der dazugehörigen Bauwerke zog sich dahin, und man warf den Architekten Vernachlässigung der Aufsichtspflicht vor. Zudem beklagte man sich auch über die lange Anreise, welche besonders im Winter beschwerlich war, denn damals existierte noch keine Bahnverbindung in diesen Teil von Simmering.
Der Begriff ‚Zentralfriedhof‘ ist im ersten Augenblick irreführend, da er ja nicht zentral gelegen ist, sondern sich ausserhalb der Stadt befindet. Die Bezeichnung rührt daher, dass eine Bestattung hier kostengünstiger Standard ist. Wer auf einem der kleineren örtlichen Friedhöfe zu Grabe getragen werden wollte, hatte mindestens das doppelte zu entrichten. Auf dem Zentralfriedhof aber konnte jeder zu den geringsten Kosten beerdigt werden.

Bereits vor der eigentlichen Entstehung des heutigen Zentralfriedhofes existierten hier Gräber. Viele Persönlichkeiten wurden aus aufgelassenen Friedhöfen hierher verlegt, jedoch wurde das Friedhofsgelände im Laufe der Zeit mehrmals verändert und erweitert. Zwischen 1900 und 1911 wurden durch Max Hegele die Lueger-Kirche (Borromäuskirche) und das kunstvolle 2. Tor, das Haupttor, im Jugendstil erbaut. Die Kirche bildet das Zentrum der Anlage, wo die Hauptalleen zusammentreffen. Hier findet man die vermutlich grösste Ehregräbergruppe Europas, wenn nicht sogar weltweit. Neben namhaften Politikern ruhen hier die berühmtesten Komponisten aller Zeiten wie Ludwig van Beethoven, Wolfgang Amadeus Mozart (Denkmal, kein Grab), Franz Schubert, Johannes Brahms, Johann Strauss Sen. und Jun., Joseph Lanner, Carl Millöcker und viele andere Musiker und Schauspieler. Gegenwärtig gibt es auf dem Zentralfriedhof rund 350 Ehrengräber und 570 Widmungsgräber.

Der Zentralfriedhof umfasst eine katholische, eine evangelische, eine orthodoxe und eine neue und alte israelitische Abteilung. Letztere befindet sich beim 1. Tor und nimmt einen Grossteil des östlichen Friedhofsflügels ein. Hier herrschen ganz andere Zustände als in der Abteilung der Ehrengräber. Seit Jahrzehnten wurde hier nichts mehr gemacht, weder Gräber gepflegt, noch Sträucher geschnitten, noch Wege instand gehalten. Dadurch ist die alte israelitische Abteilung besonders interessant. Der Besucher schreitet durch endlose verwachsene Wege an verwucherten und schiefen Gräbern entlang, die nicht selten offen sind und Einblick ins Erdinnere gewähren.
Es ist die perfekte Szenerie für einen Gruselfilm. Immer wieder stösst man auf teilweise oder auch gänzlich verfallene Grabmonumente und begehbare Familiengrüfte mit rostigen Eisengittern. Umgekippte Grabsteine, zerstörte Grabplatten oder verblichene Inschriften bezeugen die jahrelange Verwilderung dieses Friedhofteils. Von hohen Bäumen gesäumte Wege, die so lang sind, dass sie im Nichts zu verschwinden scheinen, verbinden die Sektionen des Friedhofs. Oft kann der Besucher lange Zeit auf dem Gelände spazieren, ohne einem lebenden Menschen zu begegnen.

Und doch ist er nie alleine: In den rund 330’000 Gräbern liegen über drei Millionen Tote begraben, anderthalb soviel wie die Stadt Wien Einwohner hat. Sie alle liegen beerdigt in Stätten von unterschiedlicher Aufmachung. Diese reichen vom einfachsten Grabstein bis hin zu den prächtigsten Grabmonumenten, die aussehen wie eine kleine gotische Kathedrale oder eine barocke Kapelle. Dies lässt jeweils auf den Reichtum der Familie schliessen, die sich eine repräsentative letzte Ruhestätte gönnen wollte, obschon wir ‚im Tode alle gleich sind‘. Bemerkenswert ist bereits die Fahrt zum Zentralfriedhof der Simmeringer Hauptstrasse entlang. Wie sich um die Flughäfen herum Cargo- und Logistikfirmen sowie Sitze der Luftfahrtgesellschaften häufen, gliedern sich an der Strasse entlang – je näher man zum Friedhof kommt – immer mehr Blumengeschäfte, Bestattungsinstitute, Steinmetze und Sargmacher.

Man ist sich nicht ganz einig, ob der Wiener Zentralfriedhof der grösste Friedhof Europas oder möglicherweise sogar der weltgrösste ist. Der Friedhof in Hamburg Ohlsdorf wird meist als der grösste Europas genannt. Auf dem Wiener Zentralfriedhof liegen jedoch weit mehr Tote begraben als in Hamburg, und die „London Necropolis“ soll flächenmässig grösser sein als der Friedhof Ohlsdorf. Zudem liegen in den USA (Chicago, New York) ebenfalls Gräberfelder von rekordverdächtiger Grösse. Fakt jedoch ist, dass der Wiener Zentralfriedhof zu den bemerkenswertesten und eindrucksvollsten Totenstätten überhaupt zählt. Am besten zu erreichen ist das Gelände mit der Strassenbahn Nr.71 vom Schwarzenbergplatz aus oder mit ebenderselben Strassenbahn von der Endstation der U3 in Simmering Zentrum. Kein Tourist sollte Wien verlassen, ohne diese einzigartige Anlage besucht zu haben.