Programm
Das kommende Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins wird von Daniel Barenboim dirigiert, ein langjähriger Vertrauter des Orchesters, der 2022 seinen 80. Geburtstag feiert. Es ist das dritte Mal, dass er am Neuhjahrskonzert am Dirigentenpult steht.
Das Programm 2022 ist so „strausslastig“ wie schon lange nicht mehr. Erfreulich dabei ist, dass zum Einen vier Nummern der Sträusse ihre Neujahrskonzertpremiere erleben und dass zum andern der bisher sträflich vernachlässigte Edi Strauss gleich mit zwei Polkas zu Ehren kommt. Eine Steigerung wäre, endlich mal einen Walzer von ihm im Programm zu haben.
Die Dirigenten und Programmgestalter der letzten Jahre scheinen einen Narren gefressen zu haben an Joseph Hellmesberger Junior. Seine Präsenz ist fast schon zur Tradition geworden; heuer gibt’s gleich zwei Stücke von ihm. Abgesehen davon ist einzig Carl Michael Ziehrer als weiterer Name zu lesen – sein Todestag jährt sich 2022 zum 100. Mal. Von ihm gibt’s einen phänomenalen Walzer, welcher in seiner Klangfülle und seinem ungemeinen Wiener Charme die anderen in den Schatten zu stellen vermag. Es wird des Schreibenden persönlicher Höhepunkt an diesem Konzert.
Am Neujahrskonzert 2022 werden gespielt:
1. Josef Strauss – Phönix-Marsch; op. 10
Es geht los im festlichen 4/4-Takt. Diesen zwar recht einfachen, aber effekt- und klangvollen Marsch hat Pepi Strauss anlässlich der Eröffnung von Schwenders „Neuer Welt“ geschrieben. Es war dies ein grosses Vergnügungsetablissement in Hietzing, welches vom Wiener „Unterhaltungskönig“ Carl Schwender (1806-1866) um 1860 errichtet und eine der ersten Adressen der tanzwütigen Wiener geworden ist. Josef Strauss hatte die Ehre, mit dem Eröffungskonzert im Mai 1861 betraut zu werden. Eigens dafür schrieb er unter anderem den Phönix-Marsch. Möglicherweise nimmt der Titel Bezug darauf, dass Schwender aus dem alten von ihm für die „Neue Welt“ erworbenen Anwesen in Hietzing etwas Neues, Glänzendes erschaffen hat. Der Marsch fand so grossen Anklang, dass er mehrfach wiederholt werden musste. Er wird heuer zum ersten Mal an einem Wiener Neujahrskonzert gespielt.
2. Johann Strauss (Sohn) – Phönix-Schwingen: Walzer op. 125
In seiner Titelgebung und somit thematisch verwandt mit Pepis Polka ist der erste Walzer von Johann Strauss an diesem Konzert. Seine Uraufführung erlebte er im Jänner 1853 in den heutigen Sofiensälen. Dies, nachdem Johann Strauss nach einer längeren Auszeit zwecks Erholung von Überarbeitung wieder an die Öffentlichkeit getreten ist. Man hatte bereits befürchtet, dass der Meister seine Tätigkeit aufgegeben habe oder gar dem Ableben nahe gewesen sei. Doch da war er wieder in alter Frische. Ein Tag nach einem Konzert organisierte Strauss im Sofienbad einen Ball, an dem er seine Phönix-Schwingen vorstellte. Möglicherweise spielte er damit auf seine eigene Rückkehr ins „Leben“ nach der Rekonvaleszenz an. Der wundervolle Walzer beginnt bereits tonmalerisch wie ein aufsteigender Vogel, worauf frohe und lebendige Melodien sich aneinanderreihen. Eine sehr schöne Wahl!
3. Josef Strauss – Die Sirene; Mazurka op. 248
Zurück zu Josef Strauss, und wir bleiben bei der Mythologie. Von den drei Brüdern findet man bei ihm die Form der gemütlichen Mazurka am häufigsten. So fliesst auch „Die Sirene“ gemächlich und melodiös vor sich hin. Ihre Uraufführung erlebte die Mazurka im Juni 1868 im Rahmen eines Novitätenkonzerts der Sträusse im Volksgarten. Der Publikumsansturm war gigantisch, zumal das Programm hohe Erwartungen geweckt hatte. Der Höhepunkt an diesem Konzert war die Vorstellung von Johann Strauss‘ Paradewerk „Geschichten aus dem Wienerwald„, einer der heute berühmtesten Konzertwalzer der Musikgeschichte. Selbstredend, dass die vergleichsweise einfache und kleine Mazurka von Pepi dabei eine Nebenrolle spielte. Das liebliche Stück ist heute fast vergessen und erlebt am Neujahrskonzert eine Auferstehung. Da sind wir wieder beim Phönix-Motiv…
4. Joseph Hellmesberger II. – Kleiner Anzeiger; Galopp op. 4
Mit dem ersten Hellmesberger-Stück wirds rasant. Der Komponist liebte eine höchst lebendige Kompositions- und Aufführungsweise. Im „Kleinen Anzeiger“ hat er alles gegeben. Über die Hintergründe zu dieser Schnellpolka respektive Galoppe ist wenig bekannt. Es ist eines von Hellmesbergers Frühwerken.
5. Johann Strauss (Sohn) – Morgenblätter; Walzer op. 279
Für den Concordia-Ball von 1864, der grossen Faschingsveranstaltung der Wiener Journalisten- und Schriftstellervereinigung in den Sofiensälen, sollten wieder neue Kompositionen geschrieben werden. Zufällig weilte der hochangesehene Jacques Offenbach zu der Zeit in Wien. Die Veranstalter beauftragten ihn mit einem Widmungswalzer ebenso wie ihren Lokalmatadoren Johann Strauss. Letzterer wollte dem weltbekannten Wahlpariser nicht unterliegen und legte sich beim Komponieren ganz besonders ins Zeug. Die Veranstalter gaben Offenbachs Walzer den Namen „Abendblätter“, Straussens nannten sie „Morgenblätter“. Bei der Uraufführung schienen beide Walzer gleichgut beim Publikum anzukommen. Erst im Nachgang zeigte sich, dass Strauss‘ Morgenblätter nichts an Popularität einbüssten. Offenbachs Abendblätter verschwanden bald aus den Musikprogrammen in Wien. Melodien von Morgenblätter fanden später Einzug in die posthume Strauss-Operette „Wiener Blut“. Morgenblätter ist zweifelsohne einer der reizendsten Würfe Johann Strauss‘. Hier erleben wir die erste Einspielung. Ein junges Paar bewegt sich, ausgehend vom Looshaus am Michaelerplatz, durch die frühmorgendliche Wiener Innenstadt.
6. Eduard Strauss – Kleine Chronik; Polka op. 128
Rasant geht der erst Konzertteil zu Ende mit Eduard Strauss‘ Schnellpolka, die thematisch und stilistisch an die Hellmesberger-Galoppe anknüpft. Diese Polka gehört ebenfalls zu den Premierestücken an einem Wiener Neujahrskonzert. Man darf sich drauf freuen.
PAUSE
Der Pausenfilm ist eine Produktion des österreichischen Filmemachers und Fotografs Georg Riha. Es ist bereits sein siebter Neujahrskonzert-Pausenfilm. Er steht im Zusammenhang mit einem grossen Filmprojekt Rihas, welches er anlässlich 50 Jahre Welterbekonvention und 30 Jahre Welterbe in Österreich umgesetzt hat. Als Hauptprotagonist führt der Apollo-Falter das Publikum zu den Welterberbestätten Österreichs. Der Rundgang beginnt im Schönbrunner Schlosspark, führt schliesslich ins Zentrum der Altstadt, in die Hofburg und danach hinaus ins Land zu weiteren unter Schutz stehenden Lokalitäten.
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7. Johann Strauss (Sohn) – Ouvertüre zu „Die Fledermaus„
Dazu muss man nicht viel sagen: Es ist eines der ganz grossen Meisterwerke der Wienermusik und eine der bezauberndsten Ouverturen überhaupt. Wie Strauss hier die zentralen Motive aus der Operette geschickt vorwegnimmt, ohne sie zu spoilern, und sie geradezu sinfonisch arrangiert, ist und bleibt unerreicht.
8. Johann Strauss (Sohn) – Champagner-Polka; op. 211
Reizend und flott geht’s weiter mit der Champagner-Polka, welche oft als „musikalischer Scherz“ bezeichnet wird, wohl wegen der neckischen Klangeffekte mit Schlagwerk. Strauss zitiert damit das Öffnen einer Flasche Champagner und schliesslich dessen Genuss. Es ist ein Thema, das in der „Fledermaus“ wiederholt vorkommt. Er hat die Polka anno 1858 während seines Aufenthaltes in Pawlowsk geschrieben. Die Wiener Uraufführung fand im November selben Jahres im Volksgarten statt und wurde begeistert aufgenommen. Strauss nahm sie zwei Jahre später allerdings aus dem Programm – aus Pietätsgründen. Der Widmungsträger, Finanzminister Karl Ludwig von Bruck, hatte sich das Leben genommen, weil er zu Unrecht eines Bestechungsdeliktes bezichtigt worden war.
9. Carl Michael Ziehrer – Nachtschwärmer; Walzer op. 466
Ziehrers Nachtschwärmer-Walzer ist aus meiner Sicht DIE Überraschungsnummer innerhalb dieses Programms – die Wahl dürfte auf seinen 100. Todestag zurückzuführen sein. Es ist einer seiner weniger bekannten Konzertwalzer, dabei gehört er zweifelsohne zu den schwungvollsten Ziehrers. Bereits die Einleitung ist einzigartig und ungemein wienerisch. Sie wird eröffnet mit Getrommel und fröhlicher Marschmusik und geht danach über in einen langsamen ¾-Takt. Dann die Überraschung: Die langsame Walzermelodie in der Einleitung wird vom Orchester mitgesungen. Es ist ein schlichter, aber zum Titel des Walzers passender Vers:
Freunderl, was denkst du denn,
woll’n wir nach Hause geh’n,
oder wir bleib’n noch hier,
bist du dafür?
Bis dann der Tag erwacht
Und uns die Sonn‘ anlacht,
Freunderl, dann geh’n mar z’Haus,
schlafen uns aus.
Nun pfeifen die Sänger die folgende Melodie, bis diese leise zuende geht und nach einer kurzen Verschnaufpause der Hauptwalzer in einem mächtigen Forte einsetzt. Es folgen beschwingte Sequenzen, bis das Stück im vierten Walzerthema einen beispiellosen Höhepunkt erlebt. Es ist sehr zu hoffen, dass die Philharmoniker diejenige Version spielen, welche dieses wunderbare Thema wiederholt. Zum Schluss, nachdem der Hauptwalzer nochmals erklungen ist, verliert sich das Stück mit einer Reprise des gesungenen Textes in der Stille.
10. Johann Strauss (Sohn) – Persischer Marsch; op. 289
Von Wien in den Orient: Strauss war zwar selbst nie in Persien, dennoch schrieb er diese Hommage an das geheimnisvolle Land und führte sie erstmals im Frühsommer 1864 in St. Petersburg auf. Er widmete das mit orientalischen Harmonien angereicherte Stück dem persischen Schah Nāser ad-Din Schāh. Die Wiener Uraufführung erfolgte im Oktober selben Jahres und wurde zunächst eher verhalten aufgenommen.
11. Johann Strauss (Sohn) – Tausend und eine Nacht; Walzer op. 346
Das Thema Orient bleibt. Mit der Operette „Indigo und die 40 Räuber“ bestand Strauss sein Wiener Theaterbühnen-Debut. Der Librettist Richard Genée dürfte daran massgeblich beteiligt gewesen sein. Die Uraufführung von Strauss‘ Bühnenerstling erfolgte im Februar 1871 im Theater an der Wien. Bereits einen Monat später publizierte der Komponist den Walzer „Tausend und eine Nacht“ mit Motiven aus der Operette. Sein Bruder Eduard dirigierte die Erstaufführung im Wiener Musikverein, genau da, wo wir den populären, wundervollen Walzer jetzt wieder erleben. Die Operette ist heute kaum mehr bekannt, der Walzer umso mehr. Die Ballett-Einlage ist in Schönbrunn gefilmt worden.
12. Eduard Strauss – Gruss an Prag; Polka op. 144
Der zweite Beitrag vom „Schönen Edi“ in diesem Programm ist sehr reizvoll. Es ist eine liebliche Widmung an die goldene Stadt an der Moldau. Kenner vom Oeuvre Emile Waldteufels dürften beim Hauptthema der Strauss-Polka die frappierende Ähnlichkeit mit demjenigen von Waldteufels op. 203, der Polka „Retour des Champs“, erkennen. Ob der „Strauss Frankreichs“ bei Edi aus der Ferne ein bisschen abgeschaut hat? Vielleicht auch nur Zufall, da sich die Ähnlichkeit auf die ersten paar Takte beschränkt.
13. Joseph Hellmesberger II. – Heinzelmännchen; Charakterstück
Das zweite Stück Hellmesbergers in diesem Programm zitiert in seinen Harmonien zu Beginn das Thema von Strauss‘ Persischem Marsch. Es reihen sich neckische Melodien und Passagen aneinander, die fast schon Filmmusikcharakter haben und nicht mehr typisch „wienerisch“ wirken. Eine willkommende kleine Abwechslung innerhalb der konzentrierten Strauss-Fülle.
14. Josef Strauss – Nymphen-Polka; op. 50
Und nochmal landen wir bei der Mythologie. Für den Strauss-Ball im Februar 1858 in den Sofiensälen waren 13 Neuheiten angekündigt, sieben von Johann, sechs von Josef. Darunter war auch die Nymphen-Polka, doch ob sie tatsächlich an diesem Konzert uraufgeführt worden ist, bleibt zweifelhaft. Denn es gibt Presseberichte, welche die Polka bereits zu einem früheren Zeitpunkt nennen und für ein anderes Konzert an diesem Ort ankündigen. Ob Josef Strauss mit den Nymphen Bezug nimmt auf die weiblichen Naturgeister der griechischen Mythologie oder nicht doch eher auf die feschen Damen, welche im Sofienbad jeweils geschmeidig ihre Runden im Wasser drehen? Die Einspielung zeigt eine Einlage der Lipizzaner-Hengste der Spanischen Hofreitschule.
15. Josef Strauss – Sphärenklänge; Walzer op. 235
Mit wahrhaft himmlischen Weisen geht das offizielle Programm 2022 zu Ende: Josef Strauss‘ Meisterwerk gehört zu den fantastischsten Tongedichten der Wienermusik. Mit einer träumerischen Einleitung mit ungemein geschickt arrangierten Tonartenwechseln hebt der Komponist sein Publikum sprichwörtlich in eine andere Sphäre. Seine Uraufführung erlebte der Walzer im Jänner 1868 anlässlich des Medizinerballs in den Sofiensälen. Eine heitere Nebennotiz ist die Tatsache, dass ausgerechnet an einer Veranstaltung von Wissenschaftlern, die forschungsmässig auf Mess- und Greifbares erpicht sind, ein Walzer gespielt wird, der eine Welt jenseits der erfahrbar irdischen thematisiert. Dies merkte sinngemäss eine Wiener Tageszeitung am Tag nach der Uraufführung an.
Wie immer folgen nach der ersten Zugabe (Polka „Auf der Jagd“ op. 373 von Johann Strauss Jun.) und dem traditionellen Neujahrsgruss, welcher heuer als Aufruf zur Solidarität angesichts der Corona-Pandemie verstanden werden kann, der Walzer „An der schönen blauen Donau“ sowie der Radetzky-Marsch von Johann Strauss (Vater).
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