In den 50er- und 60er-Jahren des 18. Jahrhunderts hatten in Wien eindeutig die Strauss-Brüder das Geschäft mit der Tanzmusik in der Hand. Nachdem Johann, der seit den 40er-Jahren wirkte, immer erfolgreicher geworden war, folgten ihm Josef und Eduard. In allen namhaften Etablissements und Tanzlokalen traten die drei auf, und ihre Kapelle führte die Wiener Musikszene an. Allfällige Konkurrenten konnten sich nicht durchsetzen gegen das Orchester: Philipp Fahrbach Sen. versuchte, ein ebenbürtiges Orchester zu etablieren, musste jedoch bereits 1854 aufgeben und wechselte zur Militärmusik. Auch Joseph Gungl und Béla Kéler, die sich in Wien niederlassen wollten, blieben tief im Schatten der Strauss-Kapelle. Für diese schien es keine ernstzunehmende Konkurrenz zu geben.
Der Verleger von Strauss, Carl Haslinger, jedoch hatte seine Befürchtungen: Johann Strauss‘ Gesundheit war angeschlagen, und es bestand die Gefahr, dass seine Leistungen nachlassen würden. Die Ärzte untersagten Strauss zudem das Arbeiten. Haslinger glaubte, dass der zwar überaus begabte, aber kaum publikumswirksame Josef Strauss seinen Bruder Johann nicht ersetzen könne. Genauso wenig wie der junge Eduard, welchem es an Erfahrung mangelte. Es kam hinzu, dass zwischen Johann Strauss und Carl Haslinger eine ungesunde Spannung herrschte, die aus einer Unstimmigkeit bezüglich Honorar-Abrechnung entstanden war. Haslinger witterte Unheil.
Jetzt kam Haslinger zu Ohren, dass in der Wiener Gesellschaft – vorwiegend bei den wohlsituierten und musikverständigen Fabrikanten in den westlichen Vorstädten – ein junger Klavierspieler unterwegs war, der die aktuelle Musik und auch eigene Stücke vortrug. Haslinger wollte mehr wissen über das junge Talent, welches zu dem Zeitpunkt gerade mal 19 Jahre alt war. Es war Carl Michael Ziehrer, Sohn eines wohlhabenden Hutmachers, im Haus an der heutigen Westbahnstrasse Nummer 4 geboren am 2. Mai 1843, kurz nach dem Tod Joseph Lanners. „Michi“ erlernte von seinem Vater das Hutmacherhandwerk, fertigte gängige Kreationen an, mit besonderer Sorgfalt.
Von ebenso guter Qualität waren seine musikalischen Vorträge – häufig abends an Gesellschaftsanlässen, unter anderem in der Wirtschaft „zum goldenen Rössel“, damals Kettenbrückengasse 19. Carl Haslinger wurde neugieriger und besuchte persönlich die Anlässe, an denen Ziehrer musizierte.
Eine weiterer Grund für Haslingers wachsendes Interesse war die Tatsache, dass der damals äusserst namhafte Wiener Musiker Adolf Müller bereits einige Motive Ziehrers für eine Orchesterbesetzung arrangiert und somit als Tanzmusik tauglich gemacht hatte. Haslinger war begeistert von Ziehrers Art, seine Musik vorzutragen. Er schien seine beschwingten Melodien nur so aus den Ärmeln zu schütteln. Der erfahrene Verleger hatte keinen Zweifel mehr, dass Ziehrer einer der ganz grossen werden würde. Haslinger überlegte sich, wie er den jungen Ziehrer ins Walzergeschäft integrieren kann. Er war sich wohl bewusst, dass sein künftiger Schützling bis auf den Klavierunterricht bei Simon Sechter, finanziert vom Vater, keine weitere musikalische Ausbildung genoss, weder im Musizieren noch im Komponieren. Haslinger engagierte Professor Johann Emmerich Hasel, dieser sollte Ziehrer unterrichten. Ziehrers Vater jedoch war von der Idee wenig begeistert und verbot seinem Sohn die Weiterbildung.
Ziehreres Schritt an die Öffentlichkeit
Eines Tages erhielt Carl Michael Ziehrer eine schriftliche Einladung zu einem Diner im Hause Haslingers. Dort eingetroffen, fand Ziehrer einen erlauchten Kreis von hochrangigen Leuten vor. Anwesend waren neben Haslinger Franz Liszt, Richard Wagner, Johann von Herbeck und Prinz Leopold von Sachsen-Coburg mit seiner Frau Constanze geborene Geiger, eine seinerzeit gefeierte Komponistin und Schauspielerin in Wien und enge Freundin von Johann Strauss. Ziehrer wurde von den illustren Gästen bald zum Vorpielen aufgefordert und erntete grosses Lob. Haslinger förderte den jungen Pianisten und verlegte dessen Kompositionen.
Einige wichtige Wiener Tagblätter publizierten am Folgetag hervorragende Kritiken. Ziehrer spielte weiterhin im Dianabad auf, wo auch die Strauss-Kapelle regelmässig gastierte. Allerdings war Ziehrers Publikum eher mittelständisch und gelegentlich zu weniger feinen Exzessen aufgelegt. Die Strauss-Brüder hingegen traten fast nur an Gesellschaftsbällen mit Gästen aus der Oberschicht auf. Im Frühjahr 1865 wurde Ziehrer schliesslich in die Blumensäle der Wiener Gartenbaugesellschaft berufen, wo er Ballregent wurde und einige erfolgreiche Neukompositionen zur Uraufführung brachte.
Während Johann Strauss sich 1863 wieder im russischen Pawlowsk aufhielt und seine dortigen Sommerkonzerte gab, eskalierten die Spannungen zwischen der Strauss-Familie und Haslinger. Der Verleger und seine Gemahlin Josephine trafen den Entschluss, das Vertragsverhältnis mit der „Firma Strauss“ aufzulösen und sich nun ganz auf den jungen Carl Michael Ziehrer zu konzentrieren. Im Herbst selben Jahres stellte Haslinger Ziehrer der Öffentlichkeit vor, riesige Plakate verkündeten den ersten grossen Auftritt des Walzerneulings. Am 21. November 1863 gab Ziehrer sein erstes Konzert im Dianabadsaal. Das Publikum war hingerissen vom Neuling und seiner Art des Komponierens.
Als im November 1867 das Arbeiter-Bildungswerk gegründet wurde, ernannte man Ziehrer zu dessen Kapellmeister. Fortan spielte er an den Arbeiterbällen auf. Zudem hat Carl Haslinger es arrangiert, dass Ziehrer die musikalische Leitung der jährlichen Katharinen-Redouten in den k.u.k. Redoutensälen der Hofburg übernehmen konnte. Es waren dies beliebte Nobelanlässe, was dem Ziehrers Renommée sehr zuträglich war. Zudem spielte er immer häufiger in angesehenen Lokalen der Kaiserstadt und gab Konzerte in Baden bei Wien, Graz und Budapest.
So gut die Karriere auch voranschritt – Ziehrer schlug auch Ungemach entgegen. Sein Förderer Emmerich Hasel pfuschte dem Komponisten immer häufiger ins Handwerk, stellte sich an dessen Dirigierpult und liess unter dem Namen Ziehrer eigene Kompositionen drucken. Haslinger dürfte dies bekannt gewesen sein, hat wohl darüber hinweg gesehen, da er sich ja noch immer erhoffte, mit Hilfe Hasels den Ziehrer zum „neuen Strauss“ zu machen. Als dann Ziehrer begann, sich von Hasel zu distanzieren, um sich gänzlich eigenständig zu werden, kam es soweit, dass das unredliche Gebaren Hasels zum Gesprächsthema unter der Wiener Bevölkerung wurde und Ziehrers Reputation schadete. Und dann war da noch Johann Strauss‘ Jetty geb. Treffz, die Ziehrer und Haslinger sehr feindselig gesonnen war. In einem Brief an einen Freund in Berlin schrieb sie im Jahre 1865 folgende Sätze:
„Haslinger-Ziehrer Firma ist ganz im Erbleiben, soviel auch der gute dicke Carl [Haslinger] arbeitet und par Force erreichen möchte, wozu nur eine Kleinigkeit gehört – Talent! Das hat aber der gute Ziehrer nicht, und so hilft alles nichts. Die lächerlichsten Geschichten passieren, ja sogar Beweise hat man in den Händen, dass Ziehrer selbst diesen Schmarren, den er mit seinem Namen im Druck erscheinen lässt, nicht selbst arbeitet; doch es wäre schade um jedes Wort, er bricht sich selbst das Genick durch seine Talentlosigkeit.“
Zu Ziehrers Verdruss erholte sich Johann Strauss von seiner Schwächephase, und seine beiden Brüder schrieben nun ein Erfolgswerk nach dem anderen. Ziehrer hatte keine Chance, sich mit seinen Neuheiten neben denjenigen der Strauss-Brüder zu behaupten.
Plagiats-Vorwürfe
Trotz allen Konkurrenzdenkens: Johann Strauss war für Ziehrer ein grosses Vorbild, ja er schätzte ihn sehr hoch. Das schlug sich nicht nur darin nieder, dass Ziehrer Strauss optisch nachahmte, sondern gewisse Melodien und Harmonien in Ziehrers Werk sind eindeutig von Strauss inspiriert. In einem Fall wurde Ziehrer gar Plagiarismus vorgeworfen – nicht ganz zu Unrecht. Es betrifft Strauss’ Opus 209, den Walzer „Spiralen“ aus dem Jahr 1858. Ziehrer fand Gefallen an der Komposition und verwendete darauf das Hauptthema des Walzers leicht abgewandelt mit veränderter Fortführung für einen eigenen Walzer.
Der Erfolg von „Spiralen“ jedoch blieb aus. Ziehrer nutzte diese Gelegenheit und übernahm sein von Strauss inspiriertes Walzerthema für die Arie „Sei gepriesen, du lauschige Nacht“ aus seiner erfolgreichsten Operette „Die Landstreicher“. Bis heute ist das Lied eine der bekanntesten Melodien Ziehrers. Da die Uraufführung der Operette drei Wochen nach Johann Strauss’ Tod über die Bühne ging, gab Ziehrer die Melodie als seine eigene Idee aus. Der Bühnenbildner des k.u.k. Hofoperntheaters, Franz Gaul, bemerkte das Halb-Plagiat und protestierte mit einem gesalzenen Brief gegen den „Melodienklau“. Ziehrer reagierte nicht auf die Vorwürfe, sondern erntete die reichen Früchte seines Operetten-Erfolges. Ganz Wien sang zur Ziehrer-Melodie, deren Anfangstakte auf Strauss zurückgehen. Die betreffenden paar Takte hat Ziehrer später zum Hauptthema seines Opus 488 „In lauschiger Nacht“ verarbeitet, ein heute noch aufgeführter Walzer, der es 2023 sogar ins Programm des Neujahrskonzertes der Wiener Philharmoniker geschafft hat. Die „Spiralen“ hingegen verstaubten in den Archiven.
Ziehrer wird selbstsändig
An Weihnachten 1868 starb Carlhaslinger unerwartet an einem Schlaganfall. Wie sollte es nun mit Ziehrers weitergehen? Ohne seinen Mentor Haslinger konnte er sich in Wien kaum behaupten. Er entliess seine Musiker. Der Zufall wollte es jedoch, dass genau zu dieser Zeit das Infanterie-Regiment Nr. 55 von Graf Leopold Gondrecourt nach Wien verlegt wurde. Dessen Regimentskapelle war auf der Suche nach einem Dirigenten, Ziehrer griff zu. Nun spielte er mit seiner Militärkapelle in denselben Lokalen auf wie zuvor mit seinem Zivilorchester. Ziehrer komponierte nun selbständig, sprich ohne jegliches Zutun von Hasel. Es gelangen ihm einige sehr gefällige Werke, die jedoch nicht den erhofften Erfolg brachten.
Als 1873 die Vorbereitungen für die grosse Wiener Weltausstellung im Prater begannen, sah Ziehrer seine Chance gekommen, wieder mit einer Zivilkapelle auf die Bühnen zurückzukehren. Die Organisation der Weltausstellung jedoch wurde noch vor deren Eröffnung von einem wirtschaftspolitischen Streit überschattet. Zudem verwandelte ausgiebiger Regen das Pratergelände in eine knietiefe Sumpflandschaft. Als Folge davon blieb der grosse Besucherstrom sowohl an der Ausstellung als auch an den damit verbundenen Veranstaltungen aus.
Es entstand ein beträchtliches finanzielles Defizit für die Ausstellung und für die Gastronomie. Auch Ziehrer hatte dabei mit seiner Zivilkapelle das Nachsehen. Er wurde wieder Kapellmeister – diesmal beim Infanterie-Regiment Nr. 76 unter Franz Freiherr von John. Die Militärkapelle erlangte unter Ziehrer schnell grosses Ansehen, wie aus zahlreichen Zeitungsberichten hervorgeht. Nebenbei gründete Ziehrer die „Deutsche Musikzeitung“, eines der führenden Publikationsorgane der Musikszene im späteren 19. Jahrhundert. Zu etwa derselben Zeit wagte Ziehrer einen ersten Schritt in Richtung Theaterbühne: Zusammen mit Richard Genée und Max von Weinzierl schrieb er die Musik zur Burleske „Cleopatra oder durch drei Jahrtausende“.
Die Premiere fand am 13. November 1875 im Ringtheater statt, doch der Erfolg blieb aus. Auch für seine erste eigene Operette „König Jérôme oder immer lustick“, die drei Jahre später am 28. November 1878 ebenfalls im Ringtheater uraufgeführt wurde, lief es nicht besser. Sie wurde bald wieder abgesetzt. Ziehrer hatte zu diesem Zeitpunkt die Kapelle des Infaterie-Regiments Nr. 76 bereits wieder verlassen. Er hatte das einmalige Angebot erhalten, die Strauss-Kapelle zu übernehmen. Der bisherige Leiter Eduard Strauss war nun auf ausgiebigen Kunstreisen, wozu er ein Orchester benötigte, deren Mitglieder bereit waren, lange unterwegs zu sein. Die Musiker der Strauss-Kapelle waren zu dieser Umstellung jedoch nicht bereit. So boten sie Ziehrer die Leitung ihrer Konzerte an.
Eduard war erwartungsgemäss empört und trat gar vor die Behörden, auf dass man Ziehrer verbiete, mit der Kapelle unter strauss’schem Namen aufzutreten. Man kam Eduards Forderung nach, das Orchester wurde in „Kapelle Ziehrer“ umbenannt. Lange konnte sich das Ensemble jedoch nicht behaupten, worauf Ziehrer dessen Leitung dem aufstrebenden Wiener Musiker Karl Kratzl übergab. Ziehrer unternahm nun selbst längere Konzertreisen. Im Sommer 1879 gastierte er in Rumänien und erhielt den Titel des Königlich Rumänischen Hofkapellmeisters. In Wien wurde dieser Titel erst am 2. Februar 1880 anerkannt.
In Wien machte Ziehrer erst 1881 wieder von sich reden, als das Carltheater die komische Operette „Wiener Kinder“ ins Programm nahm, deren Musik aus Ziehrers Hand stammt. Die Premiere am 19. Februar 1881 verlief vielversprechend, trotzdem wurde die Operette schon bald wieder abgesetzt. Enttäuscht reiste Ziehrer nach Berlin zurück, wo er sich zuvor aufgehalten hatte. Er schien in Wien vorerst vergessen. In Berlin übernahm er die Kapelle der Reichshallen und agierte als Variété-Dirigent. Er arbeitete mit der in Linz aufgewachsenen Marianne Edelmann zusammen, welche am 1. September 1888 seine Ehefrau werden sollte.
Zurück in Wien übernahm Ziehrer das Amt des Kapellmeisters beim Regiment von Albert Freiherr Knebel von Treuenschwert und danach erneut dasjenige beim Regiment Gondrecourts. Das Jahr 1883 sollte eine bedeutende Wende in Ziehrers Musikerlaufbahn bringen: Am 15. September erschien in den Wiener Zeitungen eine Annonce, in der das Wiener Hausregiment Nr. 4, die Hoch- und Deutschmeister, die Stelle eines Kapellmeisters ausschrieb. Es ist nicht bekannt, ob Ziehrer sich dafür beworben hat. Die Stelle erhielt der ausgezeichnete Musiker Heinrich Strobl, bisheriger Kapellmeister des Infanterie-Regiments Nr. 29. Kurz nachdem Strobl von Temeschburg nach Wien übersiedelt war, um die Stelle anzutreten, verstarb er jedoch unerwartet.
Die Stelle wurde erneut ausgeschrieben mit folgendem Text: „Infolge Ableben des Kapellmeisters ist die Kapellmeisterstelle im IR 4 erledigt. Bewerber wollen ihre mit Zeugnissen belegten Gesuche bis 15. Mai I. J. dem Regimentskommando einsenden.“ Diesmal war es der mittlerweile 42 Jahre alte Ziehrer, der die begehrte Stelle erhielt. Es stand ihm nun eine viel versprechende Zukunft bevor, denn die Tanz-Ära der Sträusse in Wien hatte sich bereits zuende geneigt. Johann schrieb fast nur noch Operetten, Josef war bereits 1870 verstorben, und Eduard war die meiste Zeit auf Konzertreisen. In Wien führten nun die Militärkapellen das Musikleben an, so auch Ziehrer mit seinen Hoch- und Deutschmeistern. Konzertreisen führten ihn nach Osteuropa, nach Konstantinopel und Bukarest.
Ziehrer spielte sich mit seiner renommierten Kapelle in die Herzen der Wiener. Jetzt entfaltete sich seine ganze künstlerische Begabung, Ziehrer schrieb eine Serie von Meisterwerken, wie sie Wien seit den Strauss-Brüdern nicht erlebt hat. So echt wienerisch das Blut in Ziehrers Adern war, so echt wienerisch war seine Musik. Ganz Wien schien sich jetzt über Ziehrers Musik zu definieren. Wo er mit seinen Hoch- und Deutschmeistern auftrat, waren die Säle ausverkauft. Und als Ziehrer begann, im Ronacher Sonntagskonzerte zu geben, stand er Eduard Strauss und seinem Orchester in nichts nach, der die traditionellen sonntäglichen Konzerte im Goldenen Saal des Musikvereins veranstaltete.
Am Höhepunkt seiner Karriere
Bewusst wählte Ziehrer urtümliche Musik, eingängig und volksnah – ein Erfolgsrezept. Eduard hingegen wurde sogar von seinem Bruder Johann zurechtgewiesen, er solle nicht immer so „gehobene Unterhaltungsmusik“ spielen, sondern sich an Ziehrer ein Beispiel nehmen. Dessen Musik ging nun um die Welt. Am 12. Februar 1890 spielte Ziehrer mit seinem Orchester anlässlich der Eröffnung des neuen Wiener Rathauses seinen Widmungswalzer „Wiener Bürger“. Damit triumphierte er erstmals über Johann Strauss, dessen „Rathausball-Tänze“ weit weniger Resonanz auslösten.
1888 gastierte Ziehrer in München und sorgte auch da für ausgebuchte Säle. 1893 reiste er mit seinen Hoch- und Deutschmeistern auf der „Bismarck“ über den Atlantik nach Amerika zur Chicagoer Weltausstellung. Ziehrer litt an Seekrankheit und schrieb als Reminiszenz die neckische Polka „Lieber Bismarck, schaukle nicht“. Auf allerhöchste Erlaubnis trat sein Orchester in Uniform auf. Der Erfolg war grandios, was Ziehrer veranlasste, seinen Aufenthalt in der Neuen Welt zu verlängern und eine Konzerttournee zu unternehmen. In Utah etwa wurde sein Potpourri „Traum eines Reservisten“ von einer Schar Mormoninnen stürmisch bejubelt.
Ziehrers eigenmächtige Aufenthaltsverlängerung in Amerika war allerdings ein Fehler, er überzog damit seinen offiziellen Urlaub. Der Militärvorstand setze Ziehrer in Wien ab, noch bevor er dahin zurückgekehrt war. Als Ziehrer in Wien eintraf, fand er an seiner Stelle den Musiker Wilhelm Wacek. Ziehrer stand unter Schock. Besonders enttäuschte ihn, dass selbst Anton Freiherr von Schönfeld, dem Ziehrer den heute weltbekannten Schönfeld-Marsch gewidmet hatte, die Absetzung befürwortet hatte.
Ziehrer liess sich nicht beirren, gründete eine neue Zivilkapelle und trat jetzt erst recht in Wien auf. Er wandte sich erneut dem Schreiben von Operetten zu. Er heilt selbst daran fest, nachdem auch „Ein Deutschmeister“ 1888 im Carltheater ohne nachhaltigen Erfolg geblieben war. Eine weitere Operette entstand in Zusammenarbeit mit dem Theaterdirektor Gabor Steiner: „Die Landstreicher“ mit Uraufführung am 29. Juli 1899 beim Sommertheater Venedig in Wien war eine Sensation. Auch seine weiteren Bühnenwerke fanden grossen Anklang. Ziehrer war jetzt also auch erfolgreicher Operettenkomponist und trat quasi das Erbe von Johann Strauss und Carl Millöcker an, die beide im selben Jahr verstorben waren.
Der Höhepunkt in Ziehrers Karriere erfolgte 1907, als er nach Johann Strauss Vater, Johann Strauss Sohn und Eduard Strauss zum vierten – und letzten – k.u.k. Hofballmusikdirektor ernannt wurde. Der mittlerweile 64-Jährige Komponist erhielt vom Kaiser persönlich die Erlaubnis, während des Dirigierens auf die Uniform zu verzichten.
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieg war auch das Schicksal Ziehrers besiegelt. Er verlor sein gesamtes Vermögen. „Der rote, goldgestickte Frack und der Zweispitz des Hofballmusikdirektors waren zum Mottenfrass geworden“, schrieb die „Neue Freie Presse“ in Ziehrers Nekrolog. Der Komponist verbrachte seine letzten Lebensjahre gebrochen, von Krankheit gezeichnet, fast vergessen und völlig verarmt in Wien. Unterstützung erhielt er in dieser bedauernswerten Lage von Freunden und Bekannten. Carl Michael Ziehrer starb am 14. November 1922 um 12.45 Uhr Mittag in seiner Wohung im Haus Erdbergstrasse 1. In einem rührenden Nachruf fand der damalige Bürgermeister Jakob Reumann aufrichtige Worte: „Ziehrer hat in hohem Masse beigetragen, Wiens musikalischen Ruhm in der ganzen Welt zu sichern und zu heben; wir bleiben ihm, dem echten Sohn unserer Stadt, für alle Zeiten dankbar für das, was er als Künstler und Meister geleistet hat.“ Carl Michael Ziehrer ruht auf dem Zentralfriedhof in einem Ehrengrab neben seiner Ehefrau Marianne.
Ziehrers musikalisches Erbe legt Zeugnis von seiner ausserordentlichen Schaffenskraft ab: Neben 23 Operetten hinterliess er rund 600 Walzer, Polkas und Märsche. Die 1935 gegründetete Carl Michael Ziehrer-Stiftung verfolgt den Zweck, bedürftige Musiker und Komponisten zu unterstützen.