16. Bezirk, Lerchenfelder Gürtel 1

Es deutet tagsüber nichts darauf hin, dass im Parterre des historistischen Eckhauses von 1872 Leben herrscht. Vielmehr würde man denken, dass das Café Weidinger wohl schon länger dicht gemacht hat, so düster ist der Eindruck von aussen. Doch hinter den mit Gardinen verhängten Fenstern gibts Vorstadt-Kaffeehaustreiben. Im Jahre 1914 wurde das grosse Gürtelcafé eröffnet, 1983 von Robert Maria Stieg renoviert.

Es dürfte eine sanfte Renovation gewesen sein, denn betritt man das Weidinger, wähnt man sich 80 Jahre in der Zeit zurückgeworfen. Es geht recht ruhig zu und her, vom Motorenlärm draussen auf dem Gürtel ist wenig mitzukriegen, die Atmosphäre ist selbst bei Sonnenschein schummrig, und die blauen Plüschsitzgruppen – sie haben offenbar schon viel „erlebt“ –, die nikotingelben Wände, die dunkle Wandvertäfelung und die Kugellampen tragen das Ihrige dazu bei – das Kaffeehaus hat eine herrliche Patina. Da scheinen selbst die fies orangefarbenen Fenstergarnituren zur restlichen Farbgebung des geräumigen Lokals zu passen.

Würde man das Weidinger als Kulisse für einen 40er- oder 50er-Jahre-Film verwenden, bedürfte es kaum einer Änderung, die Zeit scheint hier ein nicht existenter Faktor zu sein. Obschon sich klassische Marmortischchen mit abgewetzten Resopal-Modellen abwechseln, bildet die Einrichtung optisch eine Einheit. Die sanitären Anlagen sind eine Sehenswürdigkeit für sich. Die älteren Ober geben sich wohl wienerisch-distanziert, doch bei weitem nicht so grantelnd wie andernorts.

Erwartungsgemäss sind die Preise im Weidinger sehr moderat bis niedrig – man befindet sich hier in einer weniger schicken Gegend in der Nähe des Rotlichtmilieus, und Vorstädter aus sämtlichen Gesellschaftsschichten kommen hierher, viele zum Spielen. Das Klacken vom Billard ist denn oft auch das einzige Geräusch, das durch den Raum klingt. Auch Tarock wird hier rege praktiziert.
Das Café Weidinger ist eines der authentischsten Beispiele für die traditionelle Wiener Kaffeehauskultur in der Vorstadt jenseits des Gürtels. Wer das Hier und Jetzt für einen Moment vergessen und in vergangene Zeiten eintauchen will, der ist mit dem Weidinger bestens bedient.


